DER FRÜHLING KOMMT SCHON IM WINTER
Es ist noch Winter in Cali. Das Wetter war aber mild. Tagsüber schien die Sonne, der Himmel war hellblau mit ein paar weißen Wolkenflocken. Die Temperatur lag am Tag zwischen 70-75°F. Nachts sank sie auf 30-40°F. Zwischendurch gab es auch graue Tage, an denen es weder Sonne noch Regen zu sehen war. Der Wind blies schwach aber kalt genug, um zu zeigen, dass der Winter noch nicht vorbei ist. Alle Pflanzen waren noch im Tiefschlaf. Ab und zu gab es ein paar Regenschauer, die die Erde feucht und weich genug gemacht haben und die Krokusse, die entlang des Zen-Hauses gepflanzt wurden, reckten ihre Blattstiele über den Boden. Die beiden vietnamesischen gelben Forsythien wurden bereits vor 2 Wochen entblättert, damit sie am ersten Jahrestag blühen können. Sie haben neue Blätterknospen jedoch noch keine Blütenknospen gebildet.
Das Gras, die Blumen, die Bäume wachen langsam auf. Nicht erst im Frühling bilden sie die neuen Blätter sondern bereits jetzt im Winter. Die Vietnamesen in Cali fingen an, das Neujahrsfest wie in Vietnam vorzubereiten, obwohl hier noch Winter herrscht. Es gab viele gelbe Margeriten, lilafarbene Orchideen, rote Gladiolen, Bánh tét (Vietnamesischer zylindrischer Klebreiskuchen), Bánh chưng (Vietnamesischer quadratischer Klebreiskuchen) und die roten kleinen Briefumschläge.
Auf dieser Seite des Pazifischen Ozeans liegt Cali, es ist noch Winter, auf der anderen Seite des Pazifischen Ozeans liegt Vietnam, ein elegantes, S-förmiges Land. Dort fängt der Frühling bereits an. Das heißt, dass Tet (Neujahrsfest) nicht abhängig von dem Wetter sondern abhängig von unserem Geist ist, nicht wahr? In anderen Orte auf der Welt, zum Beispiel wie Europa feiern die Vietnamesen auch Tet, obwohl es dort noch viel kälter als hier in Cali ist. Man fühlt sich trotzdem warm und glücklich, als ob man sich gerade in der Heimat befindet. Man beglückwünscht sich und verschenkt gegenseitig die roten, kleinen Briefumschläge. Das heißt, Tet beginnt bei uns im Geist.
Das Jahr wurde in vier Jahreszeiten aufgeteilt: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Das Wetter ist mal warm, mal kalt, mal regnet es, mal scheint die Sonne. Daher sind die Jahreszeiten, das Wetter und der Zeitraum nur eine vereinbarte Wahrheit, die sich ständig ändert, sie ist unecht und vergänglich. Nach dem Frühling kommt der Sommer, nach dem Sommer kommt der Herbst, nach dem Herbst der Winter und nach dem Winter kommt der Frühling zurück.
Wenn der Frühling da ist, wissen wir, dass er bald gehen wird. Ebenso, wenn wir die Blüten sehen, wissen wir, dass sie irgendwann vergehen werden. Nach dem Regen kommt die Sonne, ein Naturgesetz, das sich seinem Kreislauf stetig wiederholt und keiner von uns weißt, wo es herkommt und seit wann es das gibt. Genauso sind wir. Wir werden geboren, wachsen auf, altern, dann sterben wir und wir werden wiedergeboren.
Auch das menschliche Leben dreht sich nicht anders als die vier Jahreszeiten. Das Sterben existiert bereits bei der Geburt und ein neues Leben fängt beim Tod an.
So können wir sagen, dass wir und die anderen Dinge in der Natur (im Universum?) die Geborenen sind. Wir und sie werden geboren, ändern sich mit der Zeit, sterben und werden wiedergeboren. Das ist der Kreislauf eines Lebens aller weltlichen Phänomene. Da wir, so wie sie, wiedergeboren werden, sind wir, ebenso wie sie quasi unsterblich. Wir verändern nur unsere physischen und psychischen Bestandteile wie unsere Erscheinung, unseren Namen und die Dinge rändern ihre Form und haben andere Anwendung. Daher kann man auch sagen, dass wir und sie die Ungeborene sind.
Wenn wir nur einen kurzen Zeitraum oder die Dauer eines Menschenlebens betrachten, werden wir sagen, dass alle weltlichen Phänomene die Geborenen sind. Wenn wir aber unsere und ihre unzähligen Leben betrachten, dann merken wir, dass sie und wir die Ungeborenen sind, da keiner richtig stirbt.
Dann sind wir, die Menschen sowie alle weltlichen Phänomene, ein „Nicht-Selbst“. Unsere Essenz sowie ihre Essenz sind leer und so sind wir und sie gleich. Wenn man diese Philosophie versteht, klammert man sich nicht mehr an irgendetwas, was bisher als fester Wesenskern betrachtet wurde.
Diese Welt ist nur eine stetige Bewegungsenergie. Das Leben ist ebenso eine Energie, die niemals verloren geht. Es ist nur eine Ansammlung von sich konstant verändernden physischen und psychischen Bestandteilen der Dinge. Mal sind sie so, mal sind sie anders. Wer dieses Änderungsgesetz nicht versteht, der leidet.
Fazit: Bei der Geburt existiert bereits das Sterben und beim Sterben beginnt bereits ein neues Leben. Geburt ist nicht anders als Sterben und Sterben ist quasi eine Geburt. Was bedeutet das?
Form ist nicht verschieden von Leere, Leere ist nicht verschieden von Form. Daher ist Körper Leere und Leere ist Körper. (Herz-Sutra)
Form ist das, was aus dem leeren Wesen hervorgeht und als Geburt betrachtet wurde. Wenn die Form zu ihrer leeren Natur zurückkehrt, wird sie vorübergehend Sterben genannt.
Wenn es noch Form ist, wissen wir aber, dass seine Essenz leer ist, es ist dann ein Ungeborenes und ein Ungeborenes stirbt nicht.
So geht ein Frühling nie zu Ende. Auch wenn er einen anderen Namen wie Sommer, Herbst oder Winter hat, ist er immer der Frühling im Geist eines jeden. Wenn wir ihn Frühling nennen, ist er der Frühling. Wenn wir ihn nicht Frühling benennen, gibt es dann keinen Frühling, und wenn es keinen Frühling gibt, gibt es keine Jahreszeiten.
Sunyata-Zentrum, den 21- 1- 2022
TN
Link zum vietnamesischen Artikel: https://tanhkhong.org/p105a4020/triet-nhu-trong-mua-dong-da-co-mua-xuan