DER DAMALIGE FRÜHLING
Jetzt ist Mai. Kalendarisch ist es noch Frühling. In Europa beendet die Sonne mit ihrem warmen Licht den kalten Winter mit rauem Wind und Schnee. In Kalifornien gibt es nur in den hohen Gebirgen Schnee. Im Flachland ist es immer grün. Wenn ich die wunderschöne Natur betrachte, erinnere ich mich an die Frühlingsgefühle meiner Kindheit. Als Kind durfte ich nicht bis Mitternacht wach bleiben, um Silvester zu feiern. Trotzdem weckten mich meine Eltern am nächsten Tag, um das neue Jahr zu begrüßen. Nachdem ich mich frisch gemacht und neue Kleidung angezogen hatte, beglückwünschte ich meine Ureltern und meine Eltern und erhielt dafür etwas Taschengeld. (In VN bekommen Kinder nur zum Neujahrsfest etwas Geld, kein monatliches Taschengeld wie hier.)
Als ich etwas älter war, durfte ich mit meiner Mutter zu einem nahegelegenen Tempel gehen, um eine Kau-Chim-Orakelbefragung durchzuführen. Alle Glücksstäbe, die ich aus dem Bambusrohr zog, ergaben eine positive Vorhersage. Als ich noch älter wurde, sind meine Ureltern verstorben und ich erhielt am Neujahrstag kein Geldgeschenk mehr. Einige Jahre später verstarben auch meine Eltern und ich begann, mich mit der buddhistischen Lehre zu beschäftigen. Es ist 30 Jahre her, und seither hat mich die buddhistische Lehre nicht mehr losgelassen. Jetzt kehrt der Frühling zurück.
Heute Morgen habe ich frei. Nachdem ich Seminare in Paris, Berlin, Schenkenzell und Juziers gegeben habe, kehre ich nach Kalifornien zurück. Hier werde ich einen Grundlehrgang für Meditation an fünf Samstagen geben. Das Wetter geht langsam in den Sommer über. Es wird wärmer. Der Frühling ist jedoch noch da, heiter und friedlich.
Oft habe ich die grünen Bäume und Pflanzen im Garten des Tempels betrachtet und erlebt, wie der Frühling wie ein sanfter Fluss vorüberging. Auf diesem spirituellen Weg bin ich bisher unerfahren und werde es wohl auch immer unerfahren bleiben. Die Welt ist ein ständiges Kommen und Gehen. Auch unter dem Dach dieses Tempels sind einige Menschen gekommen und gegangen, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Ich habe jedoch mein eigenes Reich, in dem es weder Raum noch Zeit gibt, in dem es kein Altern, keine Krankheiten und kein Sterben gibt. Wenn ich meine lieben Menschen sehen möchte, kann ich das sofort, da es weder Raum noch Zeit gibt. Der Geist ist wie ein Spiegel, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft widerspiegelt. Er verfügt nicht über die drei Raum- und Zeitdimensionen der Außenwelt, die wir täglich wahrnehmen.
Sind die Dinge, die wir durch unsere Sinnesorgane wie Augen, Ohren, Nase, Zunge und Haut sowie durch unsere Gedanken wahrnehmen, echt? Diese Wahrnehmung nennen wir Geist. Jeder einzelne Geist ist anders. Wie die Welt wirklich aussieht, weiß niemand genau. Die Wissenschaftler haben bisher noch keine für alle akzeptable Antwort gefunden. Auch der Buddha hat diese Frage nicht beantwortet. Selbst wenn er es getan hätte, würden wir seine Antwort vermutlich nicht verstehen. Insbesondere Menschen, die noch keine Erfahrungen mit dem spirituellen Geist gemacht haben, könnten seine Antwort nicht nachvollziehen.
Es gibt also ein Universum, das sich selbst entfaltet hat. „Selbst entstehend” bedeutet in diesem Kontext nicht, dass es ein Ungeborenes ist, sondern dass es durch das Zusammenkommen verschiedener Bedingungen entsteht. (IDAPACCAYATĀ). Es entsteht durch ein physikalisches Gesetz und nicht durch eine Gottheit oder einen Dämon. So hat es der Buddha erklärt.
Wenn man ihn weiterfragen würde: „Was ist die Eigenschaft dieses Universums?”,
würde er antworten: „Die Eigenschaft dieses Universums ist Leerheit.“
Wenn die Eigenschaft dieses Universums leer ist, gibt es dann keine Existenz dieses Universums?
– Das Universum existiert. Nur seine Existenz ist eine Illusion.
Wir könnten weiter darüber grübeln, wie etwas aus dem Nichts entstehen kann. Es muss doch jemanden geben, der diese Ereignisse regelt, sonst würde es nicht funktionieren.
Buddha hätte eine solche Frage nicht beantwortet, da es nicht sein Ziel war. Sein Ziel war es lediglich, den Menschen aus dem Leiden zu helfen.
Er lehrte: „Menschen leiden, weil sie an Geld, Macht, Schönheit und Lebensgenüssen festhalten wollen. Sie leiden, wenn ihre Wünsche nicht erfüllt sind.“ Doch wie kann man aus dieser Anhaftung herauskommen? Das ist die schwierigste Aufgabe des Buddhismus. Genauer gesagt, war es die schwierigste Aufgabe des Prinzen Siddhartha vor 26 Jahrhunderten.
26 Jahrhunderte sind 2.600 Jahre, in denen der Frühling 2.600 Mal gekommen und gegangen ist. Im Buddhismus gibt es drei besondere Frühlingsmomente: „den Frühling, in dem Prinz Siddhartha geboren wurde, den Frühling, in dem er erleuchtet wurde, und den Frühling, in dem er ins Nirwana ging.“
Viele Male sah ich Buddha auf der transparenten Oberfläche des Spiegels meines Geistes erscheinen und wieder verschwinden – zeit- und raumlos. Ich habe auch eine strahlende Morgendämmerung im Frühling in Kapilavatthu, Buddhas Heimat, gesehen.
Heute habe ich ein Bild von meinem eigenen Geist gemalt. Ihr könnt das auch machen. Natürlich wird euer Bild anders aussehen als meins, da jeder Geist individuell ist. Ich weiß nicht, wie das gesamte Universum wirklich aussieht. Ich habe nur aufgemalt, was ich in meinem Geist empfand, und möchte euch heute mein erstes Bild präsentieren.
Sunyata Zentrum, den 11- 06- 2025
TN
Link zum vietnamesischen Artikel: https://tanhkhong.org/p105a4796/triet-nhu-dau-chan-tren-cat-bai-06-mua-xuan-nam-do

