DEN GEIST AUFGEGEBEN
- Anuruddha, wie verweilt ihr in Eintracht und in gegenseitigem Einvernehmen, streitlos, lebt ihr wie Milch und Wasser beisammen und bedenkt euch gegenseitig mit freundlichen Blicken?
- O Herr, da denke ich: ‘Oh, was für eine Gabe das ist. Was habe ich da Gutes bekommen, dass ich mit solchen Gefährten im Reinheitswandel verweilen kann.’ Ich begegne jenen Ehrwürdigen mit Wohlwollen in körperlichen Taten, sowohl offen als auch privat, mit Wohlwollen beim Sprechen, sowohl offen als auch privat und mit Wohlwollen im Denken, sowohl offen als auch privat. O Herr, da denke ich: ‘Was wäre, wenn ich nun den eigenen Geist niedergelegt habend, dann entsprechend dem Geist der Ehrwürdigen leben würde?’ Also habe ich meinen eigenen Geist aufgegeben und mich dem der Ehrwürdigen ergeben. Auf diese Weise, o Herr, sind zwar unsere Körper verschieden, aber ich meine, im Geist sind wir eins.
MN31. Das kürzere Culagosinga-Sutta
Was können wir aus diesem Sutra lernen?
Dies ist eine Geschichte von Anuruddha, der mit zwei anderen Brahmanen zusammenlebte. Als er die Vorteile des Zusammenlebens mit anderen Brahmanen inmitten eines einsamen Waldes erkannte, verhielten sich alle drei auf dieselbe Art und Weise: Sie erweckten ein Mitgefühl füreinander. Warum redet man hier nicht von Karuna (bedingungslose Liebe), Mudita (Mitfreude) oder Upeksa (Gleichmut)? Alle drei sind Mönche, die fleißig praktizieren, keiner von ihnen braucht Hilfe oder Zuflucht von außen. Niemand braucht ein Mitgefühl von dem anderen. Es gibt weder Freude [Nanda (skt)] noch Leiden und wenn es keine Gefühle des Leidens oder der Traurigkeit gibt, besteht auch keine Notwendigkeit, einen Geist des Loslassens zu entwickeln. Jeder von ihnen bringt dem Anderen liebevolle Güte entgegen, d.h. Respekt, Zuneigung, Sanftmut und liebevolle Güte in Gedanken, Worten und Taten, ehrlich und ohne einzige Verheimlichung:
„Lasst uns unseren eigenen Geist aufgeben und dem Geist eines anderen folgen.“
Was bedeutet: „lass uns unseren Geist aufzugeben“?
Der Geist ist im Allgemeinen unser Denken, unsere Gefühle und unsere Emotionen, die noch nicht in Worten und Taten zum Ausdruck gekommen sind. Er wird auch „Gedanke“ genannt. Dies ist ein allgemeiner und subjektiver Geisteszustand, der oft zu Missverständnissen, Kontroversen und Unstimmigkeiten führt, weil das „Ich“ oft denkt, dass es Recht hat und es verteidigt seine „Meinung“.
Wenn wir es erkennen, müssen wir dieses „Ich“ kontrollieren und ihm nicht erlauben, zu Worten und zu Taten zu kommen, das bedeutet, wir haben zu allererst unser Taten- und Worten- Karma bewahrt. Dann transformieren wir als Nächstes unseren Geist:
- Jeder hat eine Buddha-Natur in sich und jeder kann die Erleuchtung erlangen bzw. Buddha werden. Wir sollen daher jedem Respekt zeigen.
- Da jeder noch Verunreinigungen hat, wird er also wiedergeboren. Die Hauptverantwortung der Verunreinigung ist der Sinnlichkeitstrieb [s: kāmāśrava; p: kāmāsava].
Im Moment sind unsere Mitmenschen wie wir noch auf dem Kultivierungsweg. Ihr Geist ist noch wie unser Geist verschmutzt. Wir müssen daher Mitgefühl mit ihnen haben.
Allein die zwei obengenannten Wahrheiten reichen aus, eine solide Grundlage für den Mittelweg [Mādhyamā-pradipadā (S), Majjhimāpaṭipadā (P] zu bewahren: wir würden nicht in die „Selbstironie oder Arroganz“ verfallen.
Wenn wir also unseren weltlichen Geist loslassen, muss er allmählich schwächer werden und er dürfte keine bösen Gedanken mehr haben. Sobald die Gedanken rein sind, werden die beiden anderen Karmas (Worte und Taten) auch rein sein.
Angenommen, unser Geist ist rein, der Geist der Menschen, die um uns herum leben, ist aber nicht rein. Wie können wir denn „den eigenen Geist“ loslassen, um den Verstand eines anderen zu folgen?
Liebe Freunde, dieser Weg ist viel einfacher als wir denken.
Vielleicht werden einige von euch so denken: euer Geist ist rein, er ist gut und warmherzig. Wie können wir denn dem Geist eines anderen, der noch nicht rein ist, folgen? Wenn wir aber diesen Gedanken verfolgen würden, würde es zur Streit und Konflikten kommen. Solange wir noch denken, dass wir Recht haben, denken wir immer noch subjektiv, denn was für uns richtig ist, ist nicht unbedingt für die anderen auch richtig.
Die Regel der Harmonie sagt, dass wir den Umständen entsprechend leben müssen, da wir abhängig von diesen Lebensumständen sind. Die Kultivierenden müssen geduldig sein und alle Nachteile auf ihrer Seite ertragen, auch wenn ihnen Unrecht widerfährt. Warum ist das so? Wenn man sich rechtfertigt, bedeutet das: „Man hat Recht und die andere Person hat Unrecht.“ Im Buddhismus werden „Recht und Unrecht“ wie ein Ereignis betrachtet und ein Ereignis ist weder richtig noch falsch.
Auch wenn wir wahrnehmen, dass die Anderen eine falsche Handlung begangen haben, müssen wir den vier folgenden Dharmas folgen: Großzügigkeit, liebevolle Rede, nützliche Handlungen und Kooperation.
Deshalb ist es nicht leicht, sich wie ein Bodhisattva zu verhalten. Das Lotus-Sutra legt die Bedingungen für einen Bodhisattva dar: „Betretet das Haus des Tathagatas, tragt die Robe des Tathagatas und sitzt auf dem Thron der Leere.“ Diesen Satz können wir wie folgt verstehen:
- Regeln haben, um sich selbst zu bewahren (das Haus des Tathagatas betreten)
- Wahrhaftigen Bewusstseinszustand haben: ein reiner Geist nimmt die Sache immer so wahr, wie sie ist (trägt die Robe des Tathagatas)
- Weisheit haben, um zu wissen, dass die Essenz der Welt Leere ist (sitzt auf dem Thron der Leere)
Daher muss jeder spirituelle Weg eine vollkommene Erhabenheit erzielen, wahre Weisheit besitzen, um die weltlichen Dharmas zu verstehen, um alle Nöte und Herausforderungen des Lebens überwinden und aus dem Lebenskreislauf entkommen zu können.
Zurück zu dem Thema „den eigenen Geist aufgeben“. Diese Praktiziertechnik ist wie die anderen Kultivierungstechniken. Das Ziel ist gleich, nur die Übung ist etwas anders. Herr Anuruddha war ein Prinz in der Sakka-Familie. Er war Cousin von Prinz Siddhattha. Er erlangte später die Arhatschaft und hatte Göttliches Auge. [Dibbacakkhu (P), Divyacakṣu (S)].
Ich war unfassbar glücklich, als ich damals diese drei Worte „eigenen Geist aufgeben“ gehört habe, als ob ich einen Diamanten in einem „Wald des Buddhismus“ gefunden hätte. Eine echte Lebenskunst finde ich. Ich wollte schon lange über dieses Thema schreiben, aber ich wusste nicht mehr genau, wo ich diesen Text finden konnte. Auch mit der Google Suchmaschine konnte ich kein einziges Dokument über diese drei Worte finden. Bis gestern, als ich zufällig das Nikāya-Sutra noch einmal hörte, hörte ich sie wie durch ein Wunder wieder. Oh, das ist, was ich schon lange gesucht habe.
Den „eigenen Geist aufgeben“. Wenn wir in einer Sangha oder in einer normalen Gesellschaft harmonisch mit den anderen leben wollen, müssen wir also unseren eigenen Geist aufgeben und dem Geist eines anderen folgen. Liebe Freunde, wie der Mönch Anuruddha einmal auf die Frage des Buddhas geantwortet hat:
„Erhabener, ich gebe meinen Geist auf und lebe nach dem Geist dieser Ehrwürdigen. Erhabener, obwohl wir verschiedene Körper haben, haben wir den denselben Geist.“
Wie kann es denn Konflikte geben, wenn wir „im Geist eins“ sind? Es gibt nur noch Zufriedenheit und Gelassenheit. Wir sind gegenseitig die besten Freunde.
Jedoch heißt das nicht, dass wir einfach die Augen zumachen und den Wünschen eines anderen blind folgen oder uns dem Fluss des Lebens so hingeben. „Eigenen Geist aufgeben“ heißt:
- Nicht stur auf die eigene Meinung rechtfertigen.
- Die Meinung eines anderen respektieren.
- Wenn unsere Meinung nicht gefragt wird, sollen wir keinen Kommentar machen.
- Vermeiden unnötiger Diskussionen.
- Die Sicht eines anderen akzeptieren.
- Erkennen, dass jede Wahrnehmung, von Natur aus, anders ist.
Kurz gefasst, den eigenen Geist aufgeben bedeutet, das so zu trainieren, dass das „Ich-Selbst“ kleiner und schwächer wird und irgendwann verschwinden wird.
Der Geist ist in den Zustand „biegsam, liberal, sanftmütig...“ zu versetzen. Buddha beschrieb diesen Geist als „solch“ (Soheit).
Es bedeutet, keinen Gedanken oder keine Emotion mehr entstehen zu lassen, wenn man mit einem Objekt konfrontiert. Man gibt den Gedanken ein Ende, man lebt vollkommen in Achtsamkeit.
Habt ihr erkannt, dass „eigenen Geist aufgeben“ eine ultimative Kultivierungsmethode ist? Es ist ein Geschenk vom Bodhisattva Anuruddha. Vor einiger Zeit habe ich euch auch eine Kultivierungsmethode von Herrn Sariputta erzählt, kann sich jemand daran erinnern, wie sie heißt? Es war „Mein Geist ist ruhig wie die Erde“. Auch diese Methode ist scharf, wie ein Prajna-Schwert, das das Netz der Gier und des Verlangens durchschneidet, das riesige und schwere Ego zerstört, den ständigen Kreislauf von Geburt und Tod vernichtet.
Heute gebe ich euch zwei Diamanten von zwei großen Schülern des Buddhas, der eine ist ein Weisheitsmächtigster, der andere ist ein Geisterseher. Ich nenne sie Diamanten, weil sie nicht aus Buddhas Schatz stammen sondern sie wurden von den beiden großen Schülern des Buddhas selbst entwickelt. Diese beiden Techniken sind bescheiden, gradlinig und kreativ. Sie sind zwei neutrale, ehrliche und konkrete Antworten auf Buddhas Frage (wie man wie Milch und Wasser beisammen sein kann?), als ob sie aus der Quelle einer transzendenten Weisheit stammen würden.
Meditationshalle, den 10-08-2021
TN
Link zum vietnamesischen Artikel: https://tanhkhong.org/p1106a2618/triet-nhu-snhp023-tu-bo-tam